Konstruktivismus – eine Lerntheorie

Konstruktivismus ist eine Theorie, nach der das Lernen als individuelle Verarbeitung von Informationen gesehen wird. Gelernt wird durch Erfahrung und Interpretation des selbst Wahrgenommenen. Was nicht wahrgenommen oder erkannt wird, gibt es demnach nicht.

Bei Malwitz-Schütte (unter Berufung auf Konrad & Traub) geht der Konstruktivismus „als erkenntnistheoretische Position […] davon aus, dass Wirklichkeit immer kognitiv konstruierte Wirklichkeit sei. Danach ist die soziale Umwelt der Lernenden von den Inhalten und Vorgängen des Lernens kaum zu trennen und macht aus dem Lernen einen „situierten Prozess“. […] Ausgangspunkt und Ziel konstruktivistischer Modelle sind Lernende, die aktiv motiviert [sic!] und eigenständig auf der Grundlage ihrer Interessen und ihres Vorwissens ihr individuelles Wissen konstruieren.“

Konstruktivismus wird auch „Konstruktivistische Didaktik“ genannt und macht in seiner radikalen Lesart die Wissensvermittlung und Kommunikation unmöglich; frei nach Siebert: „Erwachsene: lernfähig, aber unbelehrbar?“. In seiner weniger radikalen, sozial-konstruktivistischen Lesart lassen sich vom Konstruktivismus „fruchtbare Implikationen für die Lehre ableiten“. Denn Lernen kann nicht erzwungen werden (siehe Hippel, Kulmus, Stimm, S.64.).

Lernprozess – Eignung und Ziele

Der Lernprozess wird im Konstruktivismus von der persönlichen Erfahrungswelt der Lernenden beeinflusst. Somit gibt es kein richtiges oder falsches Wissen, sondern „nur“ unendlich viele Sichtweisen von Wirklichkeit.

Diese Wirklichkeit konstruiert sich die/der Lernende selbst auf Basis des bereits vorhandenen Wissens und Erfahrungsschatzes.

Da die persönliche Erfahrungswelt der/des Einzelnen im Zentrum dieses Lernprozesses steht, eignet sich der konstruktivistische Lernprozess, um personale Kompetenzen, wie beispielsweise der lösungsorientierte Umgang mit einer Situation, weiter zu entwickeln.

Konstruktivistische Lernprozesse sind nicht dazu da, um Inhalte kontrolliert und gesteuert zu vermitteln (Faktenwissen, richtige Antworten trainieren,…). Dafür sind andere Lernprozesse besser geeignet (Behaviorismus und Kognitivismus).

Die Lernenden

…stehen im konstruktivistischen Lernprozess im Mittelpunkt. Sie finden selbständig Probleme und lösen diese auch selbständig. Dafür bringen die Lernenden bereits Wissen und Kompetenzen mit.

Die Lernenden üben eine selbstreferenzielle und zirkuläre Interaktion. Sie geben intern modellierend Feedback und üben dabei das prozesshafte Kooperieren mit dem Spielpartner, Coach oder Trainer:in. Das erfordert bewusstes Steuern des Interaktionsprozesses mittels Fragen durch die/der Lehrenden.

Die Lehrenden

…haben die Aufgabe, den Wissensstand der Lernenden im Vorfeld zu ermitteln. So werden Aufgaben in den individuellen Kontext gestellt und eine wertschätzende Beziehung zu den Lernenden aufgebaut.

Die Lehrenden verlassen die klassische Trainerrolle und werden zum Sparringspartner, zum Coach, Trainer oder „Mit-„Spieler der/des Lernenden.

Bedeutung für das E-Learning

Konstruktivistisches Lernen erfordert die Bereitstellung von multimedialen Lernangeboten. Diese dienen als HIlfsmittel dem Lernprozess und passen sich in die Lernumgebung der Lernenden ein.

Mit multimedialen Angeboten kann die/der Lernende einen individuellen Lösungsweg gehen, dabei Erfahrungen sammeln und so neues Wissen konstruieren.

Dabei ist darauf zu achten:

  • die Lernumgebung baut auf Authentizität (= hoher Praxisbezug, darf auch provokativ gestaltet werden, um Diskussion auszulösen)
  • die Anwendungskontexte werden situationsbezogen dargestellt ( = hohe Praxistauglichkeit)
  • die Lernangebote müssen multiple Perspektiven und Kontexte zulassen (= es gibt keinen einzig richtigen Lösungsweg, es gibt viele Lösungsoptionen)
  • wird in einen sozialen Kontext gebettet, damit sich die/der Lernende emotional und geistig auf das Thema einlassen kann

Kritik

Nach der konstruktivistischen Lerntheorie wird das Gehirn als informationell geschlossenes System gesehen. So kann in dieses nichts „eindringen“, solange etwas nicht wahrgenommen wird. In der Praxis zeigt sich beispielsweise, dass Probleme nicht gesehen werden, weil sie einfach nicht wahrgenommen werden können, da ein spezielles Problem nicht Teil des bisher gemachten Erfahrungswissens ist. Nach außen kann diese Person anderen gegenüber so ein mangelndes Problembewusstsein vermitteln. Motto: „Wer das Problem nicht kennt, hat kein Problem.“

Da das Wissen beim konstruktivistischen Lernen vom Lernenden konstruiert wird, hängt die Qualität des neuen Wissens von der Qualität der gemachten Vorerfahrungen und des mitgebrachten Wissens ab. Die Gefahr, sich „die Welt herbei zu konstruieren“, ist groß.

Das selbstreferentielle Interaktionsmoment verstärkt das Paradigma der Konstruktion. Vor allem dann, wenn konstruktivistisches Lernen mit falschen Lernzielen verbunden wird.  

Zum Erwerb richtiger, evidenzbasierter Methoden, Fakten-Wissen (Fachkompetenz) und dem Erwerb richtiger Antworten ist konstruktivistisches Lernen nicht geeignet.

Herausforderung für Lehrende

Konstruktivistisches Lernen fordert von Lehrenden hohe Kommunikations-, gruppendynamische und Interventionskompetenzen. Lehrende müssen individuelle Lernprozesse organisieren, leiten, analysieren, auswerten und an veränderte Rahmenbedingungen anpassen können. Auch die Bereitschaft, sich voll und ganz auf die Lernenden einzulassen, sollte gegeben sein.

Der Aufwand zur Produktion multimedialer Lernangebote ist deutlich höher als bei der Gestaltung kognitivistischer und behavioristischer Lernprozesse. Die Lehrenden müssen sich Methoden- und digitale Medienkompetenzen aneignen. Herausforderung: Simulation, pädagogisches Spiel, Mikrowelt.

Vorteile

Die VUCA-Welt bietet sich für konstruktivistisches Lernen an; VUCA/VUKA = Volatil, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität.

Konstruktivistisches Lernen unterstützt beispielsweise bei der Entwicklung von Produkten im Rahmen eines Design Thinking Prozesses oder die Entwicklung von Innovationen.

Will ein Unternehmen konstruktivistische Lernprozesse seinen Mitarbeitenden anbieten, sollte die Organisationsform des Unternehmens auf diesen offenen Lernprozess vorbereitet sein; als Lernende Organisation mit gelebter Fehlerkultur. 


Quellen

Aiga von Hippel, Claudia Kulmus, Maria Stimm: Didaktik der Erwachsenen- und Weiterbildung. Ferdinand Schöningh Verlag: 2019. (= UTB-Band-Nr: 5012), S.63-66.

Mag. Ursula Huber, MBA, CMC: Theoretische Ansätze eLearning Manager – Modul 1. (Lehrgangsskript Zertifikatslehrgang bei tecTrain Graz 2022)

Magdalene Malwitz-Schütte: Selbstgesteuertes Lernen, Medienkompetenz und Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnologien älterer Erwachsener im Kontext wissenschaftlicher Weiterbildung. In: bildungsforschung. Bildung Älterer. Hrsg. v. Bernhard Schmidt. Jg. 3. Band 2. (2006), S. 15. URL: https://bildungsforschung.org/ojs/index.php/bildungsforschung/article/view/32/30 [abgerufen am 18.11.2022]

Susanne Meir: elearning-plus. Didaktischer Hintergrund Lerntheorien. URL: https://pdfslide.tips/documents/2-didaktischer-hintergrund-lerntheorien-elearning-plus-susanne-meir-9-2-didaktischer.html?page=1 [abgerufen am 24.11.2022]


Relevante Glossar-Beiträge

VUCA/VUKA

Relevanter Buchtipp

Aiga von Hippel, Claudia Kulmus, Maria Stimm: Didaktik der Erwachsenen- und Weiterbildung. Ferdinand Schöningh Verlag: 2019. (= UTB-Band-Nr: 5012)

Hat dir der Beitrag gefallen? Dann teile ihn bitte in deinem Netzwerk.